HUBSCHRAUBER GEGEN KÜHLSCHRANK Wann genau beginnt ein Leben? Das scheint eine einfache Frage zu sein, doch wenn ein neues Lebewesen auf die Welt kommt, weiß es keine Antwort darauf. Ja, klar, es wird geboren. Aber es wird ja für die anderen geboren. Sein Leben, seine eigentliche Existenz beginnt...
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HUBSCHRAUBER GEGEN KÜHLSCHRANK Wann genau beginnt ein Leben? Das scheint eine einfache Frage zu sein, doch wenn ein neues Lebewesen auf die Welt kommt, weiß es keine Antwort darauf. Ja, klar, es wird geboren. Aber es wird ja für die anderen geboren. Sein Leben, seine eigentliche Existenz beginnt in dem Moment, in dem es sein Bewusstsein entwickelt; der erste Tag seines Lebens beginnt mit der ersten Sache, an die es sich erinnert. Natürlich sind diese ersten Erinnerungen sehr konfus. Allerdings, wenn wir es uns recht überlegen, was wissen wir schon genau? Welches Alter hatten wir? Oft sind es vage und ungenaue Erinnerungen. Außer wenn sie in der Geschichte verankert sind. Dann sind sie bedeutender, denn sie gehören dann nicht einer einzelnen Person allein. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie, als ich klein war, in die Fabrik ging, um meinen streikenden Vater zu besuchen. Er war auf der anderen Seite der verschlossenen Werkstore, genau dahinter. Ich saß im Kinderwagen. Hubschrauber flogen umher, um die Streikenden und die ihnen zu Hilfe geeilten Massen zu vertreiben. Sie flogen sehr tief, aber die Menschen wichen nicht zurück. Ich glaube, meine erste Erinnerung stammt aus dieser Zeit. Als meine Mutter sie mir erzählte, schien mir diese Anekdote ziemlich vertraut zu sein, ich empfand sie als Teil meines Lebens. Ich höre das Geräusch dieser Hubschrauber immer noch, es ist ein Teil meiner Erinnerung. Ich glaube, das war die Stunde meiner Geburt. In genau diesem Moment hat mein Leben begonnen. Jenes Geräusch hat mein Bewusstsein geweckt. Wir stehen vor einem riesigen, unüberwindlichen Tor, hinter dem sich die Ehemänner, Väter und Verlobten der Frauen befinden, die auf der anderen Seite auf sie warten. Durch die Eisenstäbe hindurch reichen sie ihnen Essen und Getränke, ein Lächeln, eine Streicheleinheit. Das ist das einzige Bild, an das ich mich erinnere. Wie eine Szene aus einem alten Film oder wie ein altes, vergilbtes Foto, das starke Gefühle hervorruft. Ich glaube, gerade das hat mich an dieser Szene so beeindruckt und aus diesem Grund erinnere ich mich auch so gut an sie. Eben aufgrund der Gefühle. In jedem Blick las man Hoffnung. Und Angst. Ich habe noch eine erste Erinnerung . Die ist sehr viel persönlicher. Das war unsere erste Wohnung, die nur aus einem Zimmer bestand. Dort aßen wir alle zusammen und dort schliefen wir auch. Es war eine Art weiches Nest in einer Welt voller Probleme. Das exakte Gegenteil von dem, was ich draußen wahrnahm. Die großen Stäbe des Eisentores, der enorme Platz, über dem der Lärm der Hubschrauber dröhnte, die mit Hoffnung vermischte Angst. Die Wohnung war sehr klein, eng, sie erdrückte uns fast, aber genau deswegen gab sie mir Geborgenheit, ich fühlte mich hier wohl, man konnte alles mit einem Blick erfassen, alles verstehen. Nachts hörte ich manchmal meine Eltern. Sie liebten sich. Aber ganz leise, um mich nicht zu wecken. Dadurch wiegten sie mich wieder in den Schlaf. Und dann war da noch das ständige Geräusch des Kühlschranks. Nicht dasjenige des großen russischen Kühlschranks, der kam später, sondern das des kleinen polnischen, der mit leerem Bauch in einer Ecke des Wohn/Kochbereichs vor sich hin rülpste. Erst danach begann mein Leben, mein eigentliches Leben, eine gerade Linie mit vielen regelmäßigen Kurven. Aber ab diesem Punkt erinnere ich mich an alles, wenn ich auch nicht alles verstehe und mir viele Dinge verborgen bleiben, so nehme ich sie dennoch wahr. Ich bin mir sicher, dass ich sie später einmal verstehen werde. Mit etwas mehr Abstand. Marzena Sowa - Einleitung zur limitierten Edition von Marzi für Éditions de la Gouttière.
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