Vorwort
Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gruppe von Deutschen, die in der Tschechoslowakei bleiben mussten und nicht vertrieben werden durften, weil das Wirtschaftssystem ohne sie zusammengebrochen wäre: Die unentbehrlichen Fachleute oder Spezialisten. In Nordböhmen waren das die Bergleute,...
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Vorwort
Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gruppe von Deutschen, die in der Tschechoslowakei bleiben mussten und nicht vertrieben werden durften, weil das Wirtschaftssystem ohne sie zusammengebrochen wäre: Die unentbehrlichen Fachleute oder Spezialisten. In Nordböhmen waren das die Bergleute, im Böhmerwald die Glasmacher.
Im Jahre 1946, zur Zeit der Vertreibung, gab es im Böhmerwald zwei Städte mit überwiegend deutscher Bevölkerung - Winterberg und Eleonorenhain (die Deutschen bildeten noch immer mehr als 90% der dortigen Bevölkerung). Der Betrieb in den Glashütten durfte nicht gestoppt werden.
Die Spezialisten durften mit ihren Familienangehörigen in der Tschechoslowakei bleiben. Doch die Verordnungen, die dort das Leben der Deutschen nach dem Krieg beschränkten, erstrecken sich auch auf sie; die Deutschen durften zum Beispiel kein Fahrrad besitzen, nicht in den Wald oder in die Kirche gehen, sie durften in der Öffentlichkeit nicht Deutsch sprechen und ihre Kinder mussten tschechische Schulen besuchen. Deswegen gingen die Spezialisten oft heimlich über die Grenze nach Deutschland.
Als sich die Familie von Heinrich Pankratz, einem der Helden dieses Buchs, entschloss, im Juni 1946 bei Nacht und Nebel wegzugehen, kamen die Familienmitglieder mit den Kindern an den Händen und Bettdecken auf dem Rücken nach Helmbach hinter Winterberg. Der Fluchthelfer und Führer über die Grenze Kilian Nowotny, König des Böhmerwalds genannt, schickte sie zurück, weil an jenem Tag an der Grenze außerordentlich viele Grenzschützer waren. Sie verabredeten sich, dass sie es in drei Monaten noch einmal versuchen. Inzwischen verliebte sich ein Familienmitglied in ein tschechisches Mädchen. Die ganze Familie versammelte sich, um zu entscheiden, ob sie ohne ihn die Heimat verlassen sollte. Die Großmutter sagte damals, dass das Wichtigste in ihrem Leben die Glasmacherfamilie war und dass diese nie geteilt werden durfte. Sie verzichteten also darauf, nach Deutschland auszureisen und alle blieben in Winterberg. So ist es schließlich mit den meisten Glasmacherfamilien ausgegangen.
Doch erst nach Jahren, nachdem ich mit den letzten Zeitzeugen gesprochen hatte, begriff ich, was daran am schlimmsten war - es war nicht die Tatsache, dass diese Leute in der Tschechoslowakei bleiben mussten, sondern dass sie das Glas nie mehr so machen konnten, wie vor dem Krieg. Sie konnten weder eigene Ideen verwirklichen noch neue Techniken versuchen. Zur Zeit des Sozialismus durfte nämlich nur ein einziger Glastyp geschliffen werden.
Die deutschen Spezialisten bilden ein fast vergessenes Kapitel der deutsch-tschechischen Glasgeschichte. Ihre Enkel wuchsen heran, doch keiner von ihnen macht mehr Glas. Sie sprechen nicht einmal mehr Deutsch.
Dieser Roman ist eine kleine Erinnerung an diese Glasspezialisten. Die tschechische Originalausgabe hat den ersten Preis beim Steinbrener-Literaturfestival in Vimperk errungen und wurde von Barbora Pacisková in die deutsche Sprache übersetzt. Ossi Heindl hat dieses Buch lektoriert und dabei manche Eigenheiten der tschechischen Sprache liebevoll belassen.
August 2017, Martin Sichinger
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